Freie Aminosäuren oder vollständiges Protein – Gibt es Unterschiede?
Proteinzufuhr ist ein wichtiger anaboler Stimulus zum Aufbau und zum Erhalt von Muskelmasse (1-3). Das Ausmaß des Anstiegs der Muskelproteinsyntheserate nach einer Proteinaufnahme hängt maßgeblich vom Anstieg zirkulierender essenzieller Aminosäuren ab (20-22). Besondere Relevanz spricht man hierbei der Aminosäure Leucin zu (4).
Die Proteinverdauung und die Kinetik der Aminosäureabsorption bestimmen den Anstieg zirkulierender Aminosäuren, die Muskelproteinsyntheseraten (5-8) und diesem Zusammenhang auch etwas das man die splanchnische Aminosäureretention nennt. Man bezeichnet hierunter den First-Pass-Rückhalt von zugeführten Aminosäuren zum Erhalt von Funktionsmasse, dem sogenannten splanchnischen Gewebe. Dieser Anteil steht nicht zum Anstieg des Blutaminosäurespiegels und somit auch nicht zur Initiierung der Muskelproteinsynthese zur Verfügung (9-11).
Man weiß, dass freie Aminosäuren im Darm schneller aufgenommen werden als Aminosäuren aus Nahrungsprotein. In diesem Zusammenhang wird spekuliert, dass die postprandiale splanchnische Aminosäure-Retention nach der Aufnahme freier Aminosäuren geringer ausfällt als bei der Aufnahme eines intakten Proteins. Werden weniger Aminosäuren zurückgehalten stehen mehr Aminosäuren im Kreislauf zur Verfügung, die wiederum eine größere Muskelproteinsynthese-Reaktion auslösen können (12,13).
Die splanchnischen Gewebe (Darm, Magen, Milz und Pankreas) beziehen Aminosäuren sowohl aus der Nahrung als auch aus dem systemischen Kreislauf. Die vorübergehende First-Pass-Extraktion von Aminosäuren durch die Pfortader drainierten Eingeweide und die Leber bestimmen die unmittelbare postprandiale Verfügbarkeit im systemischen Kreislauf. Zusätzlich zur vorübergehenden Retention von Eiweißprodukten durch die Pfortader drainierten Eingeweide werden im Zuge des kontinuierlichen Proteinumsatzes stickstoffhaltige Produkte und Aminosäuren aus einer Mahlzeit in der Leber aufgenommen. Die Menge an Aminosäuren, die über diesen Mechanismus aus der Nahrung im Verdauungstrakt zurückgehalten wird, kann je nach der Proteinmenge in der Nahrung und der Zusammensetzung der Mahlzeit bis zu 30-65 % betragen.
Freie Aminosäuren oder vollständiges Protein
Eine Studie vergleicht die Verdauung, Absorption und Auswirkung auf die Muskelproteinsynthese von freien Aminosäuren und dem eigentlich bereits als relativ „schnell verfügbaren“ vollständigen Milchprotein (14). Hierzu verabreichten Forscher 24 jungen, gesunden, männlichen und weiblichen Probanden entweder 30g Milchprotein oder das entsprechende Äquivalent aus freien Aminosäuren. Es fand keine sportliche körperliche Aktivität statt, das gewohnte Essmuster wurde beibehalten und bei Frauen wurde innerhalb derselben Zyklusphase getestet.
Wie beigefügte Darstellung zeigt, waren die Gesamtmengen an Aminosäuren sowie die enthaltene Menge an essenziellen Aminosäuren samt Leucin vergleichbar.
Verdauung, Absorption
Zunächst zeigte sich ein signifikant größerer Anstieg von essenziellen Aminosäuren samt Leucin sowie nicht essenziellen Aminosäuren mit Verabreichung von freien Aminosäuren verglichen mit vollständigem Protein. Nicht unten gezeigt, ergab sich in der Gruppe mit freien Aminosäuren zudem ein stärkerer Anstieg des Insulinspiegels, verglichen mit Milchprotein.
Die Verabreichung freier Aminosäuren sorgte verglichen mit intaktem Protein insgesamt für ein stärkeres Aufkommen an Aminosäuren im Blutkreislauf (76% gegenüber 59% der aufgenommenen Aminosäuren).
Proteinsynthese und Gesamtkörperprotein
Die basale gemischte Muskelproteinsynthese stieg bei beiden Gruppen über die gesamte Beobachtungsdauer ohne signifikante Unterschiede zwischen freien Aminosäuren und Milchprotein
Die Basalraten des Ganzkörperproteinumsatzes unterschieden sich nicht zwischen den Gruppen, allerdings stieg die Ganzkörper-Netto-Proteinbilanz nach der Einnahme freier Aminosäuren insgesamt stärker als nach der Verabreichung von intaktem Protein. Dies deutet auf eine größere postprandiale Proteinakkumulation im Gewebe ausgelöst von freien Aminosäuren hin.
Verabreicht man ein und dieselbe Menge Aminosäuren einmal frei verfügbar und einmal über intaktes Protein zeigen sich Unterschiede in der Absorption, im Anstieg der Blutaminosäurekonzentration und in der Nettoproteinbilanz. Freie Aminosäure gelangen in größerer Menge in den Blutkreislauf und wirken sich verglichen mit intaktem Protein stärker positiv auf die Ganzkörper-Nettoprotein-Bilanz aus.
Warum kein Unterschied in der Muskelproteinsynthese?
Die hier festgestellte vergleichbare Wirkung auf die Muskelproteinsynthese könnte sich über das Erreichen eines gewissen Schwellenwertes an Aminosäuren begründen, ab dem sich größere Mengen nicht mehr zusätzlich positiv auswirken. Dieser Schwellenwert liegt Studien zur Folge bei etwa 20g Protein (15,16) und damit 10g unter der hier verwendeten Menge.
Anhand der Ergebnisse kann spekuliert werden, dass sich bei Verabreichungsmengen unter 20g Protein, Unterscheide in der Muskelproteinsynthesereaktion mit Vorteilen bei freien Aminosäuren gezeigt hätten. Interessant wäre ein entsprechender Versuch auch bei Betroffenen von anaboler Resistenz (wie z.B. der Generation 40+ und/oder älter) bei denen man weiß, dass höhere Proteinmengen pro Portion benötigt werden, um die Muskelproteinsynthese maximal zu stimulieren (17,18).
Was ist mit Wheyprotein?
Auch bei den meisten Wheyprotein-Verabreichungen (Konzentrat/Isolat) handelt es sich um intakte Proteine. Da man Wheyprotein unter allen Proteinen die stärkste Reaktion auf Blutaminosäurespiegel und Muskelproteinsynthese nachsagt ist die Frage berechtigt, inwieweit das Ergebnis der oben genannten Studie anders ausgesehen hätte, wäre Wheyprotein anstelle von Milchprotein verwendet worden.
Vergleichbar zeigt dies eine Studie (19) die je 20g Wheyprotein und Milchprotein in Hinblick auf Absorption, Kinetik und Muskelproteinsynthese, ebenfalls an jungen gesunden Probanden unter Ausschluss von Sport miteinander verglich und herausfand:
1.
Das trotz eines signifikanten Peaks bei Minute 75 nach Verabreichung insgesamt keine signifikanten Unterschiede im Aufkommen von Aminosäuren zwischen Milchprotein und Wheyprotein nachweisbar sind.
2.
Das Wheyprotein ein höheres EAA-Gesamtaufkommen (ohne Leucin) erzeugte als dies bei Milchprotein der Fall war. Die Unterschiede erreichten allerdings keine statistische Signifikanz.
3.
Das Leucin signifikant stärker ansteigt, wenn Wheyprotein anstelle von Milchprotein verabreicht. Vergleicht man allerdings die Unterschiede zwischen Milchprotein, Wheyprotein und freien Aminosäuren zeichnet sich ab, dass die Reaktion auf freie Aminosäuren auch bei Leucin stärker ausfallen wird als bei Wheyprotein, wenn die Verabreichungsmengen vergleichbar sind.
Freie Aminosäuren oder vollständiges Protein
Resümee
Hinweise aus Untersuchungen wie diesen legen nahe, dass es durchaus einen Unterschied macht, ob man Aminosäuren über ein intakes Protein oder aber freie Aminosäuren zu sich nimmt. Beginnend bei einer schnelleren Aufnahme, lassen sich in freier Form verabreicht, mehr Aminosäuren im Blut nachweisen, die dann wiederum die Gesamtproteinbilanz des Körpers stärker beeinflussen können. Dies findet statt, ohne eine stärkere Oxidation zu verursachen.
Unterhalb eines Schwellenwerts von 20g Protein pro Portion (oder entsprechend mehr bei anaboler Resistenz) ergeben sich Vorteile sehr wahrscheinlich auch in der Muskelproteinsynthese-Reaktion.
Viele Male mussten Aminosäure-Präparate sich nachsagen lassen, verglichen mit hochwertigen intakten Proteinen keine Vorteile für sportliche Zielsetzungen zu erbringen. Hiermit könnte sich das zumindest teilweise ändern!
Sportlicher Gruß
Holger Gugg
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Quellen
(1)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12368422/
(2)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12368421/
(3)
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0141582
(4)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24284442/
(5)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21367943/
(6)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9405716/
(7)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11158939/
(8)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19474134/
(9)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9868192/
(10)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10484364/
(11)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9022534/
(12)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32069356/
(13)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/8997229/
(14)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34642762/
(15)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19056590/
(16)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24257722/
(17)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26536130/
(18)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26578714/
(19)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26506377/
(20)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15539275/
(21)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10198297/
(22)